Laudatio für die Trägerin des Max-Frisch-Preises Maja Haderlap

Eine Preisrede von Robert Menasse, 22.09.2018

Sagst du ich, bist du in der Minderheit
Die Macht des Exemplarischen: Robert Menasse stellt in seiner Laudatio für die Trägerin des Max-Frisch-Preises Maja Haderlap grundsätzliche Fragen zum Wesen und Wirken von Literatur.

Robert Menasse ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Sowohl mit seinem literarischen Werk als auch mit seinem essayistischen Schaffen steht er ein für ein einiges, solidarisches, demokratisches Europa. Sein jüngster Roman heisst «Die Hauptstadt». Vor vier Jahren wurde Menasse mit dem Max-Frisch-Preis ausgezeichnet, jetzt hat er die Laudatio gehalten für Maja Haderlap, die seine Nachfolge als Preisträgerin angetreten hat. Maja Haderlap ist Österreicherin, gehört der slowenischen Minderheit an und schreibt sowohl auf Slowenisch als auch auf Deutsch. Dem grossen Publikum wurde sie 2011 mit ihrem vielfach ausgezeichneten Roman «Engel des Vergessens» bekannt. Er erzählt die Geschichte ihrer Kindheit, ihrer Familie und der Kärntner Slowenen.

Die Preisverleihung fand am letzten Sonntag im Schauspielhaus Zürich statt.


Sehr geehrte Damen und Herren

Wenn man mit einem Autor oder einer Autorin befreundet ist – wie erklärt man objektiv die Qualität von dessen oder deren Werk?

Ich bin mit Maja Haderlap befreundet. Als ich gefragt wurde, ob ich bei der Verleihung des Max-Frisch-Preises die Laudatio auf sie halten wolle, habe ich mich zunächst geziert. Ich dachte, dass es der Qualität ihres Werks angemessener wäre und dass es mehr Wirksamkeit im Hinblick auf die breitere Anerkennung ihrer Bedeutung hätte, wenn das Lob, das Maja Haderlap verdient, kein Freundschaftsdienst ist, sondern von einer Instanz kommt, die professionell dazu berufen ist, ein Werk zu analysieren und seine Qualitäten vorzuführen. Also von einem Literaturwissenschaftler, einer Literaturwissenschaftlerin oder einem anerkannten Literaturkritiker, einer Literaturkritikerin.

Natürlich waren meine Skrupel nicht stichhaltig. Erstens ist es doch auch ein objektives Faktum, wenn ich sage, dass ich wohl kaum mit Maja Haderlap befreundet wäre, sozusagen bloss «rein menschlich», wenn ich ihre Arbeit nicht ehrlich schätzen und anerkennen würde. Ja, meine Freundschaft ist untrennbar mit Bewunderung für ihre Arbeit verbunden.

Und zweitens waren meine Skrupel wahrscheinlich nur Rationalisierungen meiner Faulheit. Ich habe nicht die neurotische Energie, die Kritiker offenbar haben, um ununterbrochen machtvolle Urteile abliefern zu können. Eigentlich wollte ich bloss im Publikum sitzen und applaudieren, wenn Maja gelobt wird, sie danach umarmen, ihr gratulieren und mit ihr auf diesen tollen Preis anstossen, statt schon wieder etwas schreiben zu müssen.

Dennoch googelte ich und las aus Neugier, wie und wofür Maja Haderlap bisher gelobt wurde.

Ich bin zwar faul, aber ich bin auch erregbar.

Und sagte daher doch Ja zu einem Freundschaftsdienst, der in der Hoffnung getan wird, objektiver und gerechter zu sein als so manches, was ich da im Netz fand.

Zu meinem Erstaunen fand ich nämlich Aussagen über sie und Rezensionen vornehmlich zu ihrem Roman «Engel des Vergessens», die ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte, schon gar nicht in Anbetracht des grossen Erfolgs, also des Zuspruchs, den Maja Haderlap hatte. Und man muss es als ungewöhnlichen, auffälligen, enormen Erfolg bezeichnen, dass sie gleich mit einem Kapitel ihres ersten, noch unveröffentlichten Romans den Bachmann-Preis gewann, nach der Veröffentlichung dieses Erstlings den Rauriser Literaturpreis für das beste Romandebüt, in der Folge weitere, auch internationale Preise und ein Ehrendoktorat der Universität Klagenfurt erhielt. Und dass sie nicht zuletzt mit diesem Buch auch einen enormen Publikums-, das heisst Verkaufserfolg hatte.

Man hat ja gemeinhin die Vorstellung, dass der Erfolg eines Romans ausgelöst wird beziehungsweise einhergeht mit dem weitgehend einhelligen Lob des klugen Feuilletons – aber das war bei Maja Haderlaps grossem Roman «Engel des Vergessens» gar nicht der Fall, was ich nicht gewusst hatte und mich aufs Höchste erstaunte. Das Buch wurde auf so verrückte Weise rezensiert und meiner Meinung nach so peinigend ambivalent gelobt, dass ich nicht umhinkomme zu sagen, dass Maja Haderlaps Erfolg offenbar auf Irrtümern, auf einem grossen Missverständnis beruht, auch wenn dieser Erfolg meiner Meinung nach natürlich völlig verdient ist. Um es mit Friedrich Nietzsche zu sagen: Die erscheinende Wahrheit ist oft nur eine bestimmte Konstellation der Irrtümer zueinander.

Betuliche Korrektheit

Das Missverständnis beruht im Wesentlichen darauf, dass der Roman geradezu ausschliesslich als autobiografisch gelesen wurde, als Verarbeitung der Leidensgeschichte der Familie der Autorin, Angehörige einer Minderheit in der Provinz, noch dazu in einer österreichischen Provinz und Grenzregion, aber immerhin geprägt durch Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

Darin fand die Kritik die Parameter ihrer Urteile, allerdings die falschen, nämlich die Parameter der betulichen politischen Korrektheit: Sie anerkannte die Notwendigkeit, dass sich eine Betroffene mit dieser Geschichte, die fortwirkt und noch nicht wirklich umfassend aufgearbeitet ist, auseinandersetzt. Sie war sich seltsamerweise vor allem darüber einig, dass eine Geschichte des Widerstands nicht ästhetisch beurteilt werden sollte, und vermerkte daher mit hochgezogenen Augenbrauen, dass in diesem Fall Einwände gegen Sprache und Form natürlich hintangestellt werden müssten.

Ich möchte da jetzt keine Namen nennen, aber es waren grosse Namen in wichtigen Zeitungen, die zum Beispiel die Zuerkennung des Bachmann-Preises an Maja Haderlap trotz der «mühsamen Sprache» eine «noble Geste» nannten, oder die blasiert anerkannten, dass Maja Haderlap trotz «ungelenker Sprache» und «verrutschender Bilder» mit diesem Roman zu einer «Stimme für eine Volksgruppe geworden» sei, was «zweifellos anerkannt» werden müsse.

Ich zitiere das nicht, weil ich der Meinung bin, dass es die Aufgabe einer Laudatio ist, so lange nach links und nach rechts, nach Lob und nach Kritik zu blicken, bis als statistisches Mittel das Nicken übrig bleibt. Sondern weil ich ihr Freund bin und Schriftstellerkollege und daher weiss, wie wichtig es für einen Autor, eine Autorin ist, dass evidenter Unsinn oder betuliche Beschränktheit, die man über sein Werk lesen hat müssen, bei guter Gelegenheit beantwortet und ausgeräumt wird.

Zuerst: Die Sprache

Der Reihe nach. Beschäftigen wir uns mit Maja Haderlaps Sprache, dann mit ihrem Stoff, wobei ich da im Wesentlichen auf ihren Roman «Engel des Vergessens» eingehen möchte.

Maja Haderlap ist zunächst als Lyrikerin hervorgetreten und hat sehr rasch in Fachkreisen Anerkennung bekommen. Ihr Roman ist nicht zuletzt auch deshalb erstaunlich, weil man in der Regel von einer ausgewiesenen Lyrikerin, einem Lyriker, diesen Meistern des Ausdrückens von Eindrücken, nicht erwartet, dass sie auch eine grosse Erzählung verfassen können. (Es verhält sich ja auch umgekehrt so, mit Gedichten von Romanciers: Als ich einmal einige Gedichte an die Zeitschrift «Literatur und Kritik» schickte, antwortete Herausgeber Karl-Markus Gauss, dass meine Gedichte zweifellos ebenso gut seien wie die von Robert Musil. Mit diesem Qualitätsurteil sei es ihm allerdings nicht möglich, sie zu veröffentlichen.)

Jedenfalls: Dies, ein Roman von einer anerkannten Lyrikerin, hat zweifellos die Romankritiker und die Auseinandersetzung mit diesem Roman zunächst verwirrt. Die in dem Roman immer wieder aufleuchtenden lyrischen Bilder, in denen die Erzählbewegung stoppt und sich buchstäblich verdichtet, sind ja in dieser Intensität wirklich nicht klassisches episches Verfahren. Aber just im Hinblick auf Maja Haderlaps Stoff ein Glücksfall und ein Qualitätsmerkmal. Erinnerungen sind ja im Wesentlichen Bilder, Verdrängtes steigt, wenn überhaupt, als Bild auf, lückenhaft weiter Erzähltes und Vermutetes oder Fantasiertes produziert Bilder im Kopf, und viele solcher Bilder – das ist so wie beim Film – in rascher Abfolge produzieren erst die Bewegung.

«Mühsame Sprache»? Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich bei diesem Verdikt eher an James Joyce denke – über den oben zitierter Kritiker übrigens einmal eine Hymne geschrieben hatte. «Verrutschende Bilder» – ja! In der Fachsprache nennt man sie Vexierbilder, und es ist eine grosse Kunst, dies im Kopf eines Lesers auslösen zu können: dass sich im Hirnkaleidoskop bei jeder Bewegung neue Muster ergeben. Und in diesen Bildern bewegen sich Figuren, die Grossmutter, der Vater, die gleichsam aus dem Roman heraustreten als Menschenbilder in die Welt, in der wir leben. Peter Handke hat zu Recht genau darauf begeistert hingewiesen.

Mehr Präsens geht gar nicht!

Maja Haderlap erzählt in ihrem Roman durchwegs im Präsens, und das ist, wenn man nur ein bisschen was von den Möglichkeiten des Erzählens versteht, eine, wenn man es beherrscht, grossartige Methode, einen historischen Stoff in seiner fortwirkenden Präsenz zu zeigen. Mehr noch, in seiner exemplarischen Bedeutung, die dann erwiesen ist, wenn wir uns heute, jetzt, Präsens, herausgefordert fühlen, eine grundsätzliche Haltung im Hinblick auf die in der Erzählung aufgeworfenen Fragen einzunehmen.

Das ist meiner Meinung nach bei «Engel des Vergessens» der Fall und macht diesen Roman bei allen Rückgriffen in die Geschichte zu einer eminent zeitgenössischen Herausforderung. Ich möchte pathetisch ausrufen: Gerade jetzt! Mehr Präsens geht gar nicht. Es ist seltsam, dass dies, zumindest in der veröffentlichten Auseinandersetzung mit diesem Roman, niemand aufgefallen ist, und es ist ein Aspekt, den ich besonders loben und preisen will: Maja Haderlaps Erzählung über Faschismus, Krieg, Widerstand und bleibende seelische Wunden ist nicht bloss die bisher fehlende Fussnote einer grossen, ansonsten bis zum Erbrechen ausgeleuchteten Geschichte. Sie ist auch nicht der poetische Protest gegen einen Schlussstrich, den zu ziehen immer wieder gefordert wird.

Vielmehr ist diese Erzählung die exemplarische Auseinandersetzung mit einem eminent zeitgenössischen Problem: nämlich dem gesellschaftlichen Umgang mit Minderheiten. Das Exemplarische im Konkreten, Sinnlichen, Historischen ist meines Erachtens die grosse literarische Leistung von Maja Haderlap. So, wie es grundsätzlich der Anspruch ist, an dem sich grosse Literatur messen lassen muss. Was interessieren mich die Probleme einer Kaufmannsfamilie in Lübeck? Was interessieren mich die seelischen Verwirrungen eines jungen Rechtspraktikanten, der sich in eine verheiratete Frau verliebt und schliesslich Suizid begeht?

Wir können die ganze Literaturgeschichte durchgehen und uns immer wieder solche Fragen stellen, und natürlich interessiert uns das alles überhaupt nicht – ausser, es hat dieses Quantum an Exemplarischem, das uns immer wieder aufs Neue sagt: Das ist auch unser Problem, das betrifft unsere Gewordenheit, das betrifft mich heute, das stellt mich vor eine Frage, des Lebens und meines Lebens.

Die nicht vergangene Geschichte

Und die Frage, vor die uns Maja Haderlap eben stellt, diese grundsätzliche, diese exemplarische Frage lautet: Wie gehen wir, die Erben von historisch zerbrochenen Seelen, heute mit Minderheiten um? Jeder von uns ist die kleinste denkbare Minderheit, nämlich ein Individuum, so furchtbar konkret, wie nur grosse Literatur es darstellen kann. Zugleich delegiert jeder das Gefühl seiner Einzigartigkeit so wie seine Verantwortung an ein Kollektiv, das tunlichst die Mehrheit sein soll. Und wenn dieses Kollektiv einen ausschliesst: Was bedeutet Widerstand?

Wir leben in einer Zeit, in der ein Phänomen überhandnimmt und zu einer grundlegenden Frage unserer Zeitgenossenschaft wird; ein Phänomen, das sich noch kaum in der zeitgenössischen Literatur abgebildet zeigt, nämlich: Wir haben nicht die Geschichte vergessen, sondern wir erzählen sie bloss so, als wäre sie vergangen, während wir beginnen, sie auf unsere Weise zu wiederholen.

Die grundsätzliche, die exemplarische Auseinandersetzung damit ist der eine Aspekt, warum ich Maja Haderlaps Roman für so bedeutsam halte. Der andere Aspekt folgt daraus: Die nicht vergangene, die heute – Präsens – wieder auflebende Geschichte, die, wie heute gerne ignoriert wird, im Wesentlichen auch eine Geschichte des Umgangs mit Minderheiten ist, ist letztlich Demokratiegeschichte.

Man kann mit grossem Gestus, aber sicherlich begründet, sagen, dass alle Menschheitsgeschichte seit der griechischen Antike im Grunde Demokratiegeschichte ist. Die Geschichte des regelmässigen Untergangs verschiedener Demokratiemodelle, zugleich des Überlebens und der sich immer wieder durchsetzenden Idee der Demokratie.

Und was heute auffällt, ist, dass diese Geschichte wieder in ein Wellental kommt, weil eine grundlegende Lehre aus unseren historischen Erfahrungen vergessen oder ignoriert oder demagogisch und populistisch uminterpretiert wird, nämlich: dass sich Demokratie nicht darin erweist, dass die Mehrheit entscheidet, sondern sie erweist sich im Grad des Schutzes der Minderheit und des Kompromisses mit der Minderheit.

Das ist das Problem, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen, auch literarisch, weil Literatur im Wesentlichen dies ist: Reflexion von Zeitgenossenschaft und ihrer Gewordenheit. Und dafür ist Maja Haderlaps Roman ein grossartiges Exempel.

Denn die Geschichte, die Maja Haderlap als ihre Familiengeschichte erzählt, ist grundsätzlich die Geschichte von uns allen, wie beteiligt oder betroffen unsere jeweils eigene Familie daran auch war. Und in welcher Form auch immer sie weitergegeben wurde, als seelisches, ideologisches, materielles Erbe, jedenfalls als Erbe. Es ist diese Geschichte, die unseren Blick auf gesellschaftliche Prozesse prägt und sogar das Wegschauen als Blick definiert, der sich von dieser Geschichte ableitet. Es ist diese Geschichte, die gleichsam der immer wieder von Blitzen erhellte dunkle Hintergrund ist, vor dem wir heute unsere Freiheit und Menschenwürde – ja, was? Leben? Erkämpfen? Verteidigen? Wieder zu verlieren drohen.

Das selbstgerechte Verdrängen

Es gab nach 1945 den historischen Moment der Besinnung. Und auch wenn er nicht unbedingt und überall mit dem Anspruch verbunden war, den Opfern Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen, ja oftmals nicht einmal, sie anzuerkennen – aber immerhin, es gab diesen Moment der Besinnung, der, wie wir wissen, zu zwei grossen und bedeutsamen Ansprüchen führte: Niemals vergessen! Und: Demokratie lernen!

Wenn wir uns das klarmachen, dann verstehen wir auch, warum Maja Haderlaps Roman so genau ins Herz unserer Zeitgenossenschaft trifft. Mit dem «Niemals vergessen!» hat es ja so eine kniffelige Dialektik: Während die einen gerne vergessen würden, aber vom Flügelschlag des Engels des Vergessens nicht gestreift werden und daher wirklich nicht vergessen können, haben die anderen das «Niemals vergessen!» zu einem Schlagwort, das Verdrängen aber zu ihrer Praxis gemacht, mehr noch: den Anspruch auf Gerechtigkeit in Selbstgerechtigkeit erlöst.

Damit verbunden ist heute – Präsens – die bedrohliche Dynamik, die wir in weiten Teilen Europas beobachten können: Im Namen der Demokratie wird die Demokratie ausgehöhlt und von innen her zerstört. Immer mehr Menschen werfen sich auf zu einer Mehrheit, zu einem Volk, einer Meute, die zur Masse anwächst, die keine Kompromisse mehr mit jeder wie immer gearteten Minderheit akzeptiert und sie ruhigstellen, kaltstellen, ja im Grunde niederzwingen und vernichten will.

Auch wenn diese «Mehrheit» nur zwanzig oder dreissig Prozent einer Population ausmacht und daher eigentlich die Minderheit wäre und die Minderheit sich in der Mehrheit befände – es geht um die Deutungshoheit über die Zugehörigkeit, es geht um den Widerspruch zwischen Masse einerseits und Menge konkreter Individualität andererseits. Seit langem waren Mehrheit und Minderheit nicht mehr so fluide Begriffe. Glaube nicht, dass du einer Mehrheit angehörst, weil du dich getragen von einer Masse fühlst, und glaube nicht, dass du einer Mehrheit angehörst, weil du schweigst und daher dem Irrtum aufsitzt, zur schweigenden Mehrheit zu gehören.

Wir erleben die Auseinandersetzung zwischen ideologischen Vorstellungen von Volkskultur und der Realität eines möglichen Reichtums in Vielfalt. Und vor allem erleben wir wieder das Zerbrechen von Seelen und das Abstumpfen von Gemüt zwischen diesen aneinander reibenden gesellschaftlichen Mahlsteinen. So viel Minderheit war schon lange nicht mehr. Was kein Problem wäre, wenn wir nicht vergessen hätten, ohne Engelshilfe, was uns blüht.

Die Demokratie der Minderheiten

Der grosse Verfassungsrechtler Hans Kelsen hat einmal geschrieben: «Die Idee der Demokratie setzt den gebildeten Citoyen voraus. Dieser wird nie in der Mehrheit sein. Deshalb muss sich Demokratie im Schutz gleichberechtigter Minderheiten erweisen – zumal es im Zug der Ausdifferenzierung von modernen Gesellschaften nur noch Minderheiten geben wird.»

Maja Haderlap hat mit «Engel des Vergessens» eine Erzählung vorgelegt, die, aus der Tiefe der Geschichte kommend, veranschaulicht, womit wir heute immer noch und wieder konfrontiert sind. Sie erzählt eine Geschichte, die, wenn wir zu lesen verstehen, historisch nicht bleibt, sondern erneut zur grossen Herausforderung unserer Lebenszeit wird: was es bedeutet, Minderheit zu sein, und dass manches besser wäre, wenn wir durch Identifikation begriffen, dass jeder eine ist, was erst Empathie und damit soziales Funktionieren ermöglicht.

Und Maja hat dies auf eine Weise gemacht, wie nur grosse Literatur es kann: indem sie von Menschen erzählt, die so konkret und einzigartig sind in ihrer Individualität wie jeder von uns auf seine Weise. Und die zugleich so exemplarisch und so typisch sind, dass sie das allgemein gültige Bild einer Epoche zeigen, in deren Verwerfungen wir letztlich immer noch leben.

Ja, «Engel des Vergessens» ist eine sehr persönliche Erzählung der Autorin, an einem bestimmten Ort in einer bestimmten historischen Zeit, die fortwirkt, ins Präsens. Aber sie ist auch eine grosse Parabel über Grundsätzliches von verstörender Aktualität, im Präsens: über Minderheiten, Mehrsprachigkeit, die nicht als kultureller Reichtum gesehen wird, sondern als Ausschlussgrund, willkürliche Grenzen, gesellschaftliche Spaltung, Mehrheitsterror und Widerstand, die Zerstörung von Demokratie durch sogenannten Volkswillen.

Ein Spaziergang in Sarajevo

Vor zwei Jahren spazierte ich mit Maja durch Sarajevo. Es war anlässlich der Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die jedes Frühjahr in einer anderen europäischen Stadt stattfindet. Wir hatten Berichte von Menschen gehört, die den Krieg und die Belagerung der Stadt erlebt hatten, die geflüchtet waren und wieder zurückgekommen sind. Sie erzählten vom alten schönen Sarajevo des Zusammenlebens, dann den politischen, demagogisch aufgeheizten Konflikten zwischen Volksgruppen, die nun, infolge des Dayton-Vertrags, völlig verrückt in verschiedene Stadtteile umgesiedelt und aufgeteilt wurden. Wir haben uns nicht geschämt, mehr oder weniger offen zu weinen, als wir diesen Menschen zuhörten, die alle einer der Minderheiten angehörten, während eine kleine Minderheit eine für die Mehrheit katastrophale Politik gemacht hatte und machte.

Dann, wie gesagt, wanderten wir durch die Stadt, kamen zu einer Markthalle. Es war früher Nachmittag, und wir merkten, dass wir hungrig waren. In dieser Markthalle gab es einen Treppenaufgang zu einer Galerie, in der sich ein Restaurant befand, von dem aus man auf die Lebensmittelstände der Halle hinunterblicken konnte. Wir fragten die Kellnerin, die etwas Englisch sprach, was es zu essen gebe beziehungsweise was sie uns empfehlen könne. Sie nannte ein Gericht, Maja und ich sahen uns an, wir hatten beide nicht verstanden, hatten den Namen dieses Gerichts noch nie gehört. Was das denn sei? Die Kellnerin sagte: «Very typical!» Und dann, auf Deutsch: «Eintopf!»

Wir sahen hinunter auf das bunte Gewimmel des Marktes, es war völlig unmöglich zu erkennen, wer welcher Volksgruppe angehörte, Maja blickte auf und sagte: «Eintopf! Schmeckt überall anders. Ist immer typisch. Darauf können wir uns einigen!»

Sehr geehrte Damen und Herren, der Max-Frisch-Preis wird an Autorinnen und Autoren vergeben, die sich, so sieht es die Satzung vor, «kompromisslos mit den Grundfragen der Demokratie auseinandersetzen». Ich gratuliere der Jury zu der Entscheidung, diesen Preis Maja Haderlap zuzuerkennen. Und ich gratuliere meiner viel bewunderten Freundin Maja zu dieser grossen Anerkennung, die kein Missverständnis ist, sondern die sie wahrlich verdient.

https://www.republik.ch/2018/09/22/sagst-du-ich-bist-du-in-der-minderheit (25.03.2022)